Donnerstag, 16. Oktober 2008

Das GEheimnis der Träume

Unsere Vorfahren glaubten, dass sich ihnen im Schlaf die Zukunft offenbare. Doch erst als
Wissenschaftler die Seele zu erforschen begannen, entdeckten sie, dass Träume ein Fenster
zum Unbewussten sind.
Tagelang schon hatte er gegrübelt. Die Atome des Benzols wollten und wollten sich nicht
zu einer Struktur fügen, die seine vielen Eigenschaften erklärt hätte. Wie nur waren die
kleinsten Teilchen im Benzol-Molekül angeordnet? Über dieser Frage nickte der große
Chemiker Friedrich August Kekulé (1829–1896) eines Abends vor dem Kamin ein. Das
Feuer knisterte, und irgendwann träumte er, wie die Atome Insekten gleich um ihn
herumtanzten. »Sie gaukelten vor meinen Augen«, erzählte Kekulé später. »Lange Reihen,
vielfach dichter zusammengefügt; alles in Bewegung; schlangenartig sich windend und
drehend. Und siehe, was war das?
Eine der Schlangen erfasste den eigenen Schwanz, und höhnisch wirbelte das Gebilde vor
meinen Augen. Wie durch einen Blitzstrahl erwachte ich und verbrachte den Rest der
Nacht, um die Konsequenzen der Hypothese auszuarbeiten.« Eine Schlange hatte sich in den
Schwanz gebissen – und einen Ring geformt! Blitzartig erkannte Kekulé: Das war die
Lösung: Die Atome des Benzols sind ringförmig angeordnet! Kekulé hatte seinen Traum
richtig gedeutet und die Struktur des Benzol-Moleküls gefunden – vielleicht mit Hilfe eines
Traumsymbols. Denn sicher kannte der Chemiker die mittelalterliche Alchemie. Nicht
verwunderlich wäre also, wenn sich in seinen Traum ein magisches Zeichen eingeschlichen
hätte: Ouroboros, die Schlange, die sich in den Schwanz beißt – als Ring ohne Anfang und
Ende eine beliebte Allegorie für die sich wandelnde Materie.
Man schrieb das Jahr 1865. Die Wissenschaft strebte zu neuen Ufern. Traumforschung und
Traumdeutung waren nicht sonderlich gefragt, Aufklärung und Skeptizismus hatten das
gelehrte Interesse am Traum fast versiegen lassen. Für die Wissenschaftsauffassung des 19.
Jahrhunderts galt Traumdeutung als Relikt des Volksglaubens. Jahrhundertelang hatte die
Vorstellung, Träume erklären zu können, allein in Traumbüchern überlebt. Die
wissenschaftliche »Traumdeutung« des Wiener Psychiaters Sigmund Freud sollte erst 35
Jahre später erscheinen. Träume jedoch haben die Menschen wohl beschäftigt, seit sie sich
ihrer bewusst wurden. »Sie waren ja etwas Unverständliches, oft Bedrohliches«, erklärt der
Psychologe Adrian Gärtner aus Oberursel. »Angst, Krankheit, Tod, Hass, aber auch Liebe,
Sexualität und Wünsche spiegelten sich in Träumen wider und beunruhigten die Menschen.«
Und, so Gärtner, unsere Urahnen fragten irgendwann: »Wo kommen diese mons-trösen oder
bezaubernden Bilder her? Und sicher schloss sich bald die zweite Frage an: Was bedeuten
diese Erinnerungen aus den Tiefen des Schlafs? Wie kann man sie erklären?« Die
Menschen der Vorzeit haben keine Zeugnisse hinterlassen. Erst in der Bibel werden Träume
und Traumdeutungen beschrieben, überwiegend im Alten Testament. Bekanntester
biblischer Traumdeuter ist Joseph, der Lieblingssohn Jakobs. Als er seinen Brüdern Träume
erzählt, worin diese sich vor ihm verneigen, werden sie eifersüchtig und verkaufen ihn für
zwanzig Silberstücke an die Ismaeliter, die ihn nach Ägypten bringen (1. Mose). Potifar, der
Kämmerer des Pharaos, handelt ihnen den hebräischen Jüngling ab und macht ihn zu
seinem Verwalter.
Wegen einer falschen Beschuldigung kommt Joseph ins Gefängnis, wo ihn zwei
Mithäftlinge, der oberste Bäcker und der Mundschenk des Pharaos, um die Deutung ihrer
Träume bitten. Mit dem Ergebnis ist zumindest der Mundschenk sehr zufrieden. Der Bäcker
weniger: Ihm prophezeit Joseph den Tod am Galgen. Beides geht in Erfüllung: Der
Mundschenk kommt frei, der Bäcker wird gehängt. Zwei Jahre später beschäftigen den
Pharao zwei Träume, die niemand deuten kann. Sein Mundschenk erinnert sich an Joseph,
der Pharao lässt ihn aus dem Gefängnis holen und erzählt ihm seinen Traum von den sieben
mageren Kühen, die sieben andere, schöne fette Kühe aufgefressen hätten. Und in einem
zweiten Traum hätten sieben dürre Ähren sieben dicke Ähren verschlungen. »Die sieben
schönen Kühe«, erklärt Joseph, »sind sieben Jahre und die sieben guten Ähren sind
dieselben sieben Jahre. Sieben reiche Jahre werden kommen in ganz Ägyptenland. Und nach
ihnen werden sieben Jahre des Hungers kommen.« Tatsächlich folgen sieben gute und
sieben schlechte Ernten. Auf Josephs Rat legen die Ägypter in den reichen Jahren genügend
Vorräte an – und überstehen die Hungersnot. Der Hebräer gelangt in Ägypten zu großem
Wohlstand und Ansehen: Der Pharao, dessen Name in der Bibel nicht erwähnt wird, erhebt
ihn zu seinem Stellvertreter. Offenbar hat es also unter seiner Herrschaft (wohl in der
13./14. Dynastie, 1794–1645 v. Chr.) bereits »Wahrsager und Weise« gegeben, die sich
ebenfalls mit der Deutung von Träumen befassten. Hinweise auf Träume und
Traumdeutungen in Ägypten finden sich auf dem Fragment einer Papyrusrolle aus der 12.
Dynastie (1976–1794 v. Chr.). Dieser so genannte Papyrus Chester Beatty, benannt nach
seinem früheren Besitzer, wurde in Deir el-Medineh gefunden. Die »guten« Träume sind
darauf mit schwarzer, die »schlechten« mit roter Farbe verzeichnet. Träume sind für die
Ägypter Weisungen der Götter, die mehr sehen als der Mensch. Auch den Priestern vertraut
man seine Träume an. Ihre Traumauslegungen werden überall im Land respektiert. Als
erstes vollständig erhaltenes Werk gilt ein assyrisches Traumbuch. Es wurde in Ninive
ausgegraben und stammt aus der riesigen Tontafelbibliothek des Königs Assurbanipal (etwa
669–627 v. Chr.). Man nimmt jedoch an, dass die Chaldäer als Erste die Traumdeutung
ernsthaft betrieben haben. Ihr Stamm hatte im südwestlichen Babylonien mehrere kleine
Staaten gegründet. Der Name »Chaldäer« wurde bald auf alle Traumdeuter Babylons
übertragen. Auch in der Bibel (Buch Daniel) erscheint er im Bericht über einen Traum
König Nebukadnezars II. (605–562 v. Chr.). Träume sind göttlichen Ursprungs – diese
Überzeugung findet sich in allen Kulturen. Die Menschen glauben an die
wahrheitskündende Kraft der nächtlichen Botschaften. »Im Schlaf«, so der griechische
Schriftsteller Xenophon (430–355 v. Chr.), »bekundet die Seele eindeutig ihre göttliche
Natur. Im Schlaf wird ihr eine Art Einblick in die Zukunft gewährt, und das geschieht
offenbar, weil sie im Schlaf vollkommen frei ist.« »Denn auch der Traum stammt von Gott«,
verkündet Homer (um 750 v. Chr.) in seiner Ilias. Und in der Odyssee wird schon zwischen
zukunftsweisenden und trügerischen oder zumindest bedeutungslosen Träumen
unterschieden, die nur verwirren sollen. So seufzt Penelope, die Ehefrau des Odysseus:
»Träume wahrlich, oh Fremder, sind unbegreiflich und unklar. Und nicht alles, was sie
verkünden, geht in Erfüllung.« Sie beschreibt diese Erfahrung mit dem Bild zweier Pforten,
aus denen die Träume zu den Schlafenden treten, eine aus Horn, die andere aus Elfenbein:
»Die nun durch die Tür aus gesägtem Elfenbein kommen, die sind täuschender Trug mit
unerfüllbaren Worten. Die aber aus geglättetem Horn hervorgehen, bringen Wahres
zustande, wenn der Sterblichen einer sie wahrnimmt.«
Wie aber soll dieser entscheiden, ob ein Traum ihm eine glückliche Zukunft signalisieren
wollte oder ob er das Opfer eines Phantoms geworden ist? Stellen sich viele Träume nicht
wirr und absurd dar, voll unverständlicher Handlungen und Symbole? Da hilft nur der
professionelle Traumdeuter, der die Überbleibsel des Schlafes verlässlich analysieren und
auslegen kann. Der Bedarf an solchen Experten ist groß, besonders in Krisenzeiten. Und so
erfreut sich die Branche der Traumdeuter im ganzen Altertum größter Beliebtheit.
Allerdings, unter die »seriösen« Profis mischen sich oft auch Scharlatane, die auf
Marktplätzen und vor Tempeln, auf Volksfesten und bei Sport und Spiel ihre Dienste
anbieten. »Traumdeuter« kann sich schließlich jedermann nennen. Diese »Landstreicher und
Schwindler«, wie sie von der »vertrauenswürdigen« Konkurrenz beschimpft werden,
wandern in den Weiten Griechenlands und Kleinasiens herum und suchen gutgläubige
Kunden. Ihr Ansehen ist begrenzt, nicht jeder hat sein Auskommen. Der griechische
Geschichtsschreiber Plutarch (ca. 50–125 n. Chr.) berichtet zum Beispiel von einem Enkel
des berühmten athenischen Politikers Aris-teides (530–467 v. Chr.), der als völlig verarmter
Traumdeuter sein Leben fristete. Er saß tagaus, tagein am Iakchos-Tempel und ernährte sich
mit Hilfe eines Traumbüchleins mehr schlecht als recht.
Seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. finden die Heiligtümer des Gottes Asklepios großen
Anklang bei Kranken, besonders das in Epidauros. Während des »Tempelschlafs« im
geweihten Abaton hoffen die Besucher auf göttliche Hilfe und einen Rat zu ihrer Krankheit.
Asklepios (bei den Römern Aesculap) heilt im Traum, selbst Operationen führt er nachts
durch. Anderen Patienten verordnet der Gott im Traum bestimmte Arzneien oder erlegt
ihnen Heilkuren auf. In den meisten Fällen sind die Träume unverschlüsselt und klar zu
verstehen; sie bedürfen keiner »professionellen« Deutung. Traumbücher und Traumtafeln
gab es Plutarch zufolge schon im 5. Jahrhundert v. Chr. Nach ihnen konnte man
Prophezeiungen aus den Träumen einfach ablesen oder aus Bildern und Symbolen deuten.
Cicero (106–43 v. Chr.) dagegen, der scharfzüngige Römer, wettert gegen die Traumdeuter.
In seiner polemischen Schrift »De divinatione« (»Über die Weissagung«) fragt er spitz:
»Warum bedarf es des Umweges und solcher krummen Wege, dass man Traumdeuter in
Anspruch nehmen muss, anstatt dass der Gott uns, wollte er wirklich für uns sorgen, direkt
sagte: ›Dies tu, dies tu nicht!‹ und uns diese Erscheinung lieber im Wachzustand als im
Schlaf vermittelte?«
Doch Cicero bleibt ein einsamer Rufer in der Wüste. Träume gelten auch im antiken Rom
als Quelle der Wahrheit. Wie alte Chroniken berichten, hatte jeder Bürger Roms die Pflicht,
dem Senat solche Träume vorzutragen, die irgendwie mit dem Schicksal des Staates in
Verbindung gebracht werden konnten. Später dann, in der Kaiserzeit, steht die
Traumdeutung in Rom unter keinem guten Stern: Sie wird oft als politisches
Machtinstrument missbraucht. So genannte Traumberater (comites somniorum) sind im
Dienst des Imperators unterwegs, um als Spitzel die Bürger beim Erzählen ihrer Träume zu
belauschen. Das Volk wollte und will jedoch auch weiterhin von seinen Traumdeutern
hören, was die Zukunft verspricht. Listige Zeitgenossen benutzen sogar bestimmte
»Tricks«, um Unheil verkündende Träume gleichsam unschädlich zu machen: »Solche
Träume«, berichtet der Psychologe Adrian Gärtner, »darf man entweder erst bei Sonnenlicht
erzählen, oder man führt ein Reinigungsritual durch, um ihre Wirkung zu stoppen. Und als
letztes ›Gegenmittel‹ bleibt noch der Gang zum Tempel, um den Göttern zu opfern.« Einer
der berühmtesten seiner Zunft ist Aristandros von Telmessos, der Traum- und
Vorzeichendeuter Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.). Im Jahr 332 v. Chr. belagert
Alexander mit seinem Heer monatelang die mächtige phönizische Festung Tyros. Im Traum
erscheint ihm ein bocksbeiniger Satyr (griechisch satyros), der auf seinem Schild tanzt. Am
nächsten Morgen schildert der König diese Szene seinem Traumdeuter. Dieser findet nach
langem Nachdenken eine Erklärung: Man müsse den Namen des tanzenden Gesellen nur
richtig zergliedern, nämlich in »sa Tyros« – »dein Tyros«. Es heiße nichts anderes als »Dein
(wird) Tyros (sein)«! Das leuchtet Alexander ein. Er wertet den Traum als göttlichen
Fingerzeig, belagert Tyros weiter – und erobert die Festung. Neben ihrer eigenen Routine
standen den Traumdeutern der Antike natürlich zunächst die Erfahrungen vieler
Generationen von Vorgängern zur Verfügung. Sie fanden sich in Lehrbüchern, die meist
einen systematisch aufgebauten Fundus an Traummotiven bereithielten. Diese Bücher sind
bis auf eines dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen.
Nur das fünfbändige Oneirokritiká (Traumdeutung) des Artemidoros von Daldis (ca.
135–200 n. Chr.) ist erhalten geblieben. Darin ordnet er rund 1400 Traumerscheinungen
nach klaren Kategorien. Zum Beispiel: Geburt und Tod, Körper und Körperteile,
Geschlechtsverkehr, Kleidung, Nahrung, Freizeit, Götter und Götterverehrung – eine gute
Hilfe, um morgens rasch »fündig« zu werden. Artemidoros wendet sich an alle sozialen
Schichten, bietet jedem seine Interpretation. So bei Inzest-Träumen, von denen die
Menschen der Antike offenbar recht häufig heimgesucht werden. Artemidoros widmet dem
Thema ein ganzes Kapitel. Er meint, dass es »die verschiedenen Arten der Vereinigung und
Körperstellungen sind, die verschiedene Ausgänge (der Deutung) bewirken«. Zum Beispiel
kommt es darauf an, ob im Traum ein Verkehr mit der lebenden oder mit der toten Mutter
erfolgt, ob der Vater noch lebt oder auch verstorben ist, ob der Träumer Handwerker oder
Politiker, krank oder gesund ist, ob er in der Fremde lebt oder zu Hause. Zu den weiteren
Aspekten, die berücksichtigt werden müssen, zählen auch die Kontaktformen des
geträumten Verkehrs: Liegt die Mutter unten (das sei artgemäß) oder oben (das ist zügellos).
Oder wendet sie dem Träumer den Rücken zu, dann droht ihm die Abwendung aller
Landsleute oder die Aufgabe seines Handwerks. Ein übles Vorzeichen ist es, wenn man
stehend mit der Mutter verkehrt. Es bedeutet schwere Bedrängnis. Am schlimmsten ist
Fellatio. Sie führt zu allen nur denkbaren Verlusten: Tod der Kinder, Verlust von Hab und
Gut. »Ich kenne jemand«, warnt Artemidoros, »der nach diesem Traumgesicht sein
Geschlechtsglied verloren hat.« Der Grieche unterscheidet zwei Arten von Träumen: Solche,
die unverschlüsselt unmittelbar die Zukunft voraussagen, die keiner großen Auslegekunst
bedürfen, weil sie auch der Träumer versteht. Allegorische (bildhafte) Träume dagegen
verlangen geradezu nach Entschlüsselung. Wobei Artemidoros sich der Mehrdeutigkeit
vieler Symbole wohl bewusst ist. Dieses Werk gehört zu seiner Zeit sicher zur Pflichtlektüre
aller Traumdeuter. Es wird immer wieder abgeschrieben und in viele Sprachen übersetzt. Im
9. Jahrhundert n. Chr. erscheint die Oneirokritiká auch in Arabisch. Damals steht die
Traumdeutung bei den Arabern in voller Blüte. Sie lebt sowohl aus der griechischen als
auch aus der babylonisch-assyrischen Tradition. Aus vorislamischer Zeit kennt man
Wahrsager, »kahin«, die in Reimprosa Träume deuteten. Ihre Techniken werden auch in die
islamische Wahrsagekunst übernommen. Deren bedeutendster Vertreter ist der 728 n. Chr.
verstorbene Ibn Sirin. Unzählige Interpretationen werden ihm in den Mund gelegt, selbst
Geschichten, die nicht mehr zu seinen Lebzeiten spielen. Sein Name steht im Orient für
Traumdeutung schlechthin. Ein Traumbuch von ihm ist erhalten geblieben.
Nach traditioneller islamischer Ansicht wurde Adam die Kunde der Traumdeutung von
Gott selbst gegeben. Über Adams Sohn Seth und die Propheten erreichte sie Muhammad
(»der Gepriesene«, um 570–632 n. Chr.) und dann die vertrauenswürdigen Interpreten. Für
den Propheten spielten Träume eine wichtige Rolle. Jeden Morgen nach dem Gebet fragte
er seine Gefährten, wer von ihnen etwas geträumt habe. Dann legte er ihnen die Träume aus.
Muhammad empfing die Offenbarung übrigens am Tage. Daher gelten Träume, die man
tagsüber hat, in der Regel als wahr. Die zentrale Traumgeschichte im Koran (Sure 12)
gleicht dem biblischen Schicksal Josephs. Yusuf (Joseph) wird durch die Gnade des Herrn
zum Traumdeuter, der später auch die Träume seiner Mitgefangenen und des Pharaos richtig
deutet. Kein Wunder, dass sich die Muslime von Anfang an für Traumdeutung
interessierten. Wie verbreitet diese Kunst im Mittelalter war, verrät eine arabische Schrift
aus dem Jahr 1006 n. Chr. Sie berichtet von rund 11750 Autoren, die über Traum-deutung
geschrieben haben sollen.
Traumbücher gibt es auch in den zentralasiatischen Sprachen, sei es Usbekisch oder
Baschkirisch; selbst aus Hunza im Karakorum ist ein Traumbuch der dortigen Ismailis
erhalten. Sowohl der türkische Sultan Murad III. (1546–1595) als auch der südindische
Sultan Tipu von Mysore, der 1799 im Kampf gegen die Briten fiel, haben ein Traumbuch
hinterlassen. Einem Traum verdankt die christliche Kirche – der Legende zufolge – ihre
Anerkennung im Römischen Reich: In der Nacht zum 28. Oktober 312 n. Chr. mahnt eine
Stimme Kaiser Konstantin (280–337 n. Chr.), »das himmlische Zeichen Gottes auf den
Schilden seiner Soldaten anzubringen und so die Schlacht zu beginnen«, berichtet der
Kirchenhistoriker Eusebios von Caesarea. Konstantin befolgt die göttliche Weisung und
lässt ein Kreuz auf die Schilde seiner Legionäre malen. So gerüstet, greift das Heer zu den
Waffen – und besiegt an der Milvischen Brücke bei Rom die Armee von Konstantins
Schwager Maxentius. An die Stelle der griechischen oder römischen Götter als Urheber der
Träume tritt nun der christliche Gott, die Engel oder der Teufel. »Die Kunst der
Zukunftsdeutung«, sagt der Psychologe Adrian Gärtner, »wird aufgegeben zugunsten der
christlichen Heilslehre. Und der Inhalt von Träumen, die ja auch Heilige gehabt haben, wird
nun als Beweis für diese Heilslehre ausgelegt.« Andererseits fußt die Hexenverfolgung ab
dem Ende des 15. Jahrhunderts auch auf einseitig dämonisch ausgelegten Träumen von
gepeinigten Frauen. Hunderttausende von verbrannten und gefolterten »Hexen« sind die
Folge dieser christlichen »Traumdeutungen«. In einem Traktat des Heiligen Offiziums der
Inquisition von 1659 ist zu lesen: »Spricht jemand im Traum Ketzereien aus, so sollen die
Inquisitoren seine Lebensführung untersuchen, denn im Schlafe pflegt das
wiederzukommen, was untertags jemand beschäftigt hat.«
Das Werk des Artemidoros jedenfalls überlebt sämtliche Epochen. Noch zur Zeit der
Aufklärung schreiben die Verfasser von Traumbüchern von ihm ab. Ihre Werke erscheinen
meist unter fantastischen Titeln und sollen den Anschein großer Autorität und ehrwürdigen
Alters erwecken. Etwa »Der ächte ägyptische Traumdeuter« oder »Neues vollständiges und
größtes egyptisches Traumbuch, nach den besten Quellen bearbeitet von Nostradamus«.
Zedlers Lexikon, die umfangreichste Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, schreibt diese
Bücher »den gemeinen Leuten« zu, die sich »das Oracul sagen und propheceyen lassen
wollen, was ihnen solcher gehabter Traum wohl bedeuten möchte«.
Hochkonjunktur an »Traumbüchern« herrscht auch im 20. Jahrhundert. Vom
»Arabisch-ägyptisch-chinesischen Traumbuch Arach« (1959) über das »Echte
Zigeuner-Traumbuch« von Arya Sumatry (Freiburg 1961) bis zum »Goldenen
ägyptisch-arabischen Traumbuch – nach alten Quellen und neuen Erkenntnissen« von Abu
Schirin (1999) beruhen alle auf »uralten Quellen und Erfahrungen«, wie die Verfasser
beteuern. Die Psychologen des 19. Jahrhunderts tun sich schwer mit der Erforschung von
Traumerscheinungen. Das Träumen ist, so der Philosoph Gustav Theodor Fechner
(1801–1887), »als ob die psychologische Tätigkeit aus dem Gehirne eines Vernünftigen in
das eines Narren übersiedelt«. Fechner vermutet, dass der »Schauplatz der Träume« ein
anderer ist als der des wachen Vorstellungslebens. Eine Vermutung, die Sigmund Freud
später aufgreift: Er verlegt die Traumarbeit in ein besonderes System des von ihm
konstruierten »seelischen Apparates«. Der Wiener Nervenarzt (1856–1939) begründet zu
Beginn des 20. Jahrhunderts die psychoanalytische Form der Traumentschlüsselung; im
Jahr 1900 erscheint sein Werk »Die Traumdeutung«. Träume sind für Freud der
»Königsweg« ins Unbewusste. »Jeder Traum«, meint er, »ist die (verkleidete) Erfüllung
eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches.« Er entdeckt, dass im Traum vor allem
sexuelle Wünsche aus dem Unbewussten gehoben werden. Doch diese Traumdeutung muss
man vor dem soziologisch-kulturellen Hintergrund des ausgehenden 19. Jahrhunderts
verstehen. Alles, was mit Sexualität, Erotik, Liebe und Gefühl zu tun hatte, wurde von der
herrschenden Scheinmoral in das Reich des Unbewussten verdrängt. Man schämte sich
zuzugeben, dass man Unterhosen trug. Natürlich spiegelte sich dieses »viktorianische
Zeitalter« in den Träumen. Schon dadurch unterschieden sie sich von den Träumen heutiger
Menschen.
Die Schüler und späteren Gegner Freuds, Alfred Adler in Wien und Carl Gustav Jung in
Zürich, entwickelten andere Wege der analytischen Psychologie und damit der
Traumdeutung. Zahlreiche Wissenschaftler haben danach die Psychoanalyse Freuds neu
interpretiert, verändert und »modernisiert«. Schließlich hieß es sogar: »Freud ist tot!« Doch
die Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaften verschaffen Sigmund Freud eine späte
Genugtuung. Der Londoner Psychoanalytiker Mark Solms hat sie zum 100. Jahrestag der
Freudschen »Traumdeutung« so zusammengefasst: »Der derzeitige Forschungsstand gibt
uns allen Grund, Freuds radikale Hypothese ernst zu nehmen, nämlich dass Träume
motivierte Phänomene und ihre Triebkraft Wünsche sind. Auch eine weitere Annahme
Freuds findet unerwartete Bestätigung, nämlich, dass Träume eine Reaktion auf etwas
seien, das den Schlafzustand stört.« Und: »Die wesentlichen ... Schlussfolgerungen Freuds
hinsichtlich der Ursachen und der Funktion des Träumens sind alle mit dem heutigen
empirischen Forschungsstand der Neurowissenschaften zumindest vereinbar, ja sie werden
von dieser Seite her sogar indirekt bestätigt.«
Eines sollten traumgläubige Zeitgenossen allerdings bedenken: »Es ist nicht hilfreich«,
meint der Bonner Neurophysiologe Detlev Linke, »wie in der Antike aus Träumen die
Zukunft bestimmen zu wollen oder sich durch die Traumdeutung seelisch führen zu lassen
und unser ganzes Leben nach ihnen auszurichten.« Betrachten wir also die »Traumbücher«
der Gegenwart als (vielleicht) spannende Unterhaltung. Glaubwürdige Scheinwerfer in das
Dunkel der Zukunft sind sie nicht.