Freitag, 16. November 2007

Träume im Wach und Schlaf

Wenn wir uns fragen, wo im Leben im allgemeinen ge-
träumt wird, so könnten wir als erstes sagen: im Schlaf.
Woher die deutschen Wörter »Schlaf« und »schlafen« kom-
men und was sie bedeuten, weiß ich nicht genau. Ich ver-
suche aber immer, mir diese Wörter und Begriffe in einer -
wie ich sie nenne - Ursprache vor Augen zu stellen, nämlich
dem Hebräischen. Dadurch sehen wir etwas klarer, die
Erkenntnis kommt uns näher, weil wir dann in eine ganz
andere Denkart hineinkommen. Sprache läßt zu gleicher
Zeit denken, wenn wir wissen, was wir sagen.
Das Wort »schlafen« ist in der hebräischen Sprache ein
ganz merkwürdiges Wort. Es enthält nämlich den Begriff
des Doppelten, das Wiederholen, das Sichändern, also: eine
Situation und eine andere. So sagt es etwas von diesem
Zustand, das im deutschen Wort »schlafen« überhaupt nicht
zum Ausdruck kommt. Wenn »schlafen« gewöhnlich ge-
braucht wird im Sinn von »ausgeschaltet von unserem Be-
wußtsein«, so sagt das Wort »Schlaf« in der Ursprache im
Gegenteil: doppelt, und: Es wiederholt sich etwas, es ändert
sich etwas, es ist eine Bewegung da. Ich habe über das Wort
»schlafen« schon einmal in der »Rolle Esther« geschrieben;
im Zusammenhang mit der Rose, der Schoschana, habe ich
auf den Begriff Schlaf hingewiesen und das Sichändern.
Wir sehen an diesem Wort, daß die Schlafwelt eine ganz
wichtige Welt ist, vielleicht sogar wichtiger als die Welt des
Wachens. In der Schlafwelt geschieht es, daß zwei Dinge
irgendwie zusammen sind; eines ist schon da, und das an-
dere kommt auch: Es wiederholt sich. Was wiederholt sich?
Manche Menschen glauben, was wir während des Tages
erleben, wiederholt sich im Schlaf. Wir müssen prüfen, ob
das in der Sprache auch so enthalten ist. Die Sprache sagt ja
die Dinge, wie sie sind ohne unser Zutun. Wir machen nicht
Sprache, sondern Sprache entsteht bei uns; wir wissen nicht,
woher sie kommt. Wenn wir also in der Sprache etwas
sagen, müssen wir uns fragen: Woher kommt es, daß wir es
auf diese Art ausdrücken?
Wie sieht es nun mit dem Wachsein aus? Im Hebräischen
hängt dieses Wort mit dem Wort »Haut« zusammen. Die
Haut begrenzt uns, schränkt uns ein, legt uns fest auf den
Ort und den Moment, wo wir sind. Die Haut macht aus uns
ein zeiträumliches Wesen. Das Wachsein hat also mit der
Haut zu tun. Wir glauben immer, nur wenn wir wach sind,
sind wir bei vollem Bewußtsein und ganz gescheit, während
wir uns im Schlaf für ganz dumm und bewußtlos halten.
Vom Menschen wird gesagt, er habe wie ein Widerspruch
zwei Seiten in sich. Von der einen Seite sagt man, daß sie
jenseits der Spaltung ist, jenseits dessen, was auf das Zeit-
räumliche festlegt. Man könnte diese Seite eine zweite
Wirklichkeit nennen, eine andere Dimension. Dort, sagt
man, ist der Mensch umhüllt von dem, was man »or« nennt,
»Licht«. Man meint nun nicht, daß er Licht um sich herum
hat, wie wir Licht sehen, sondern es bedeutet: In diesem
Zustand kann er durch Zeit und Raum hindurchleben. Er ist
weder festgenagelt an einen bestimmten Moment noch an
einen bestimmten Ort. Er kann sich frei durch alles hin-
durchbewegen; es gibt keine Schranken. Dennoch bleibt er
immer er selbst. Er ist immer diese Person, dieses »Ich«,
könnte man sogar sagen. Er ist zu gleicher Zeit hier und dort
und lebt beide Situationen in einem. Es ist nicht notwendig,
daß er die eine aufgibt, um die andere zu erleben - und nicht
nur eine, sondern viele andere gleichzeitig.
Auch Zeit, so wird in den alten Mitteilungen erzählt, ist
unwichtig dort, spielt gar keine Rolle. Im Sekundenbruch-
teil kann da Zeit plötzlich um tausend Jahre zurückgehen
oder tausend Jahre weiter — ohne Schwierigkeiten geht das.
All dies will sagen: Der Mensch ist nicht abhängig von
Grenzen. Er kann sich begrenzen, wenn er will, und kann
auch völlig unbegrenzt sein - je nachdem. Man sagt deshalb,
wenn die Umhüllung von Licht um ihn herum ist, dann ist
er dem Gesetz von Ursache und Wirkung, der Kausalität,
nicht unterworfen. Er ist akausal, ist frei.
Das ist es, was man das »Kleid des Menschen im Licht«
nennt. Man kann es nicht darstellen. Es ist ein Erlebnis, das
kein Bild hat. Das ist die eine Seite im Menschen.
Die andere Seite wird immer mit dem identifiziert, wovon
man sagt: Er nimmt von der Frucht, vom Baum der Er-
kenntnis. Es bedeutet nicht, daß er ein böser Mensch ist; es
bedeutet: Das ist in ihm, daß er das tue. Das Nehmen vom
Baum der Erkenntnis gehört zum Bauplan der Welt. Er muß
nehmen - das ist die Welt. Er ist dann nicht schlechter als
vorher. Es ist seine Bestimmung, daß er das tut, denn mit
dem Nehmen vom Baum der Erkenntnis, wird gesagt, fängt
für den Menschen der Weg an, die Bewegung. Er fängt an,
sich zu entwickeln, er wächst. Wenn der Weg anfängt,
spricht man von der Seite des Lebens, wo das Werden ist.
Beim Werden kommt Phase nach Phase. Keine Phase
verharrt, denn es ist wie ein Strom, der fließt und nicht
erstarren kann. Er fließt immer, kein Teil einer Sekunde
bleibt, alles geht weiter. Das bedeutet: Jeder Moment ist nur
für sich da, und alles andere ist ihm fremd. Der Moment
»Jetzt« kann sagen: Der vergangene Moment ist mir fremd
und der zukünftige Moment ist mir fremd. Der Moment
»Jetzt« grenzt sich ab von Vergangenheit und Zukunft.
Wenn der Mensch so ist, sagt man, kommt ihm wiederum
»or« - genauso ausgesprochen wie das Wort für Licht, aber
anders geschrieben, und dann heißt es »Haut«. Es kommt
also das, was ihn begrenzt, einschränkt, auch einengt. Mit
dieser Enge kommt dann auch die Angst. Er wird ängstlich,
weil er begrenzt ist. Er hat Angst vor der Vergangenheit, sie
bedrückt ihn, läuft ihm nach. Er hat Angst vor der Zukunft,
er weiß nicht, was sie bringen wird. Er hat Angst vor seinem
Nächsten, er weiß nicht, was er von ihm denkt. Er bekommt
Beziehungswahn oder Verfolgungswahn, alle Arten von
Wahn. Jeder Mensch bekommt das. Manche halten es für
normal, andere nennen es abnormal. Wo ist die Norm?
Die Haut jedenfalls begrenzt ihn und bringt ihm Angst,
Enge. Nun ist es merkwürdig, daß im Hebräischen das
Wort »Wachsein« aus derselben Wurzel, aus demselben
Stamm kommt wie das Wort »Haut«. Wachsein heißt auch:
Jetzt öffnen sich uns die Augen, und dann sind wir tatsäch-
lich beschränkt auf unser Gesichtsfeld und auf den Ort, wo
wir jetzt eben stehen. »Ich bin wach und bewußt« heißt
soviel wie »Ich stehe hier«; zu sagen: »Aber ich träume, ich
stehe woanders«, hieße eigentlich die Augen schließen, auf-
hören zu reden.
Das Wachsein bringt die Kausalität mit sich, die Welt, in
der Ursache und Wirkung herrschen, also Beschränkung.
Ich kann nicht etwas loslassen, ohne daß es, wenn es schwer
ist, fällt. Auch wenn ich wünsche, daß es aufsteigt - nein, es
fällt. Durch die Ursache, das Loslassen, fällt es. Das ist im
Wachsein eine Selbstverständlichkeit.
Stellen wir uns nun Wachsein und Schlafen im Sinn der
alten Mitteilungen vor, so sehen wir, daß das Erleben wäh-
rend des Tages ein anderes ist als das Erleben während der
Nacht. Dennoch gehört beides zum Menschen. Es ist nicht
ein Mensch, der wach ist, und ein anderer, der schläft;
beides ist immer im Menschen da. Daher wird es im alten
Wissen als selbstverständlich empfunden, daß man, wie wir
heute sagen würden, phantasiert, einen Roman schreibt
oder wie Dante die »Göttliche Komödie«. Es ist ja nicht so,
daß Dante glauben machen will, er sei in der Hölle gewesen
und hätte das so gesehen, wie er es da beschreibt. Er setzt
natürlich voraus, daß jeder weiß, daß er das phantasiert,
geträumt hat, sozusagen. Dennoch ist es Wahrheit, viel
mehr Wahrheit, als wenn er gesagt hätte: Ich bin in die Hölle
gefahren und habe mir das angesehen.
Viele Mitteilungen dieser Art werden im alten Wissen
selbstverständlich akzeptiert. Es heißt dann, das habe der
Mensch geträumt. Man meint nicht: im Schlaf geträumt,
sondern: Er war wach und hat es erlebt. Im Wachen kann der
Mensch also träumen. So kann er auch im Schlaf Dinge und
Vorgänge aus der Welt des Wachens erleben. Beides ist im
Menschen da. Nur muß auch der Schlafzustand, hebräisch
»schena«, beim Menschen sein, wodurch er beides erleben
kann. Ist er nämlich nur wach, dann kann er nur die Kausali-
tät erleben, die Welt der Gesetzmäßigkeiten, die Welt, in der
Ursache und Wirkung herrschen. Dort sind Gesetze not-
wendig; und dort muß man den Gesetzen auch gehorchen.
Man kann sich ihnen nicht entziehen. Das geht nicht.
Vielleicht sind diese beiden Seiten nun deutlich gewor-
den: das Wachsein mit »or« als Haut und das Schlafen mit
»or« als Licht.
Im Traum kann der Mensch sich nach allen Seiten hin
bewegen. Allerdings unterscheidet man Träume, die doch
mehr dem Wachsein angehören, von Träumen, die der
eigentlichen Welt des Schlafes entstammen. Gefragt wird
immer: Wovon träumt er, was sind die Erscheinungen in
seinem Traum? Haben sie mit seinem Wachzustand zu tun,
oder sind sie ganz anders? Davon wird später noch viel die
Rede sein.
Ich möchte jetzt noch von den Wörtern »Traum« und
»träumen« sprechen, die im Hebräischen in dem Wort »cha-
lom« erscheinen. Bei diesem in vieler Hinsicht sehr merk-
würdigen Begriff möchte ich etwas verweilen. Die Urspra-
che, das Hebräische, kennt - im Gegensatz zu allen späteren
Sprachen - keinen Unterschied zwischen der Kausalität der
Reihenfolge (der Sequenz) in der Entwicklung der Begriffe
und derselben Entwicklung in dem, was man Porportionen
(Verhältnisse) nennt. Die Ursprache drückt die Entwick-
lung in exakter Form aus, so exakt, daß sie in Zahlen darge-
stellt werden kann. Die Reihenfolge »eins — zwei — drei —
vier« ist logisch, so können wir die Entwicklung darstellen.
Bei »eins - fünf - drei - sieben - vier« dagegen sagen wir:
Ich sehe da keine Logik, keine Entwicklung, was bedeutet
das?
Die Zeichen, die Buchstaben der Ursprache also, die das
Sprechen, Denken, Lesen, Verstehen und Hören ermögli-
chen und bewirken, haben auch einen Ausdruck im Quanti-
tativen. Entsprechend kann man das Wort »chalom«,
Traum, auch 8-30-6-40 schreiben; die Summe ergibt dann
den äußeren Wert 84. Der sogenannte »volle Wert« dieses
Wortes ergibt sich, wenn die äußeren Werte der Namen
aller Laute von »chalom« addiert werden: 584. Ziehen wir
nun vom vollen Wert den äußeren Wert ab, erhalten wir den
»verborgenen Wert« des Begriffes, der in unserem Fall ge-
nau 500 ist. Das Wort für Traum hat also den verborgenen
Wert 500.
Diese Zahl ist sehr merkwürdig. Die 500, so sagt die
Überlieferung, ist jenseits aller Begriffe der erscheinenden
Welt. Die Welt kann nur bis einschließlich 400 gemessen
werden. 500 durchbricht das Hier; 500 ist dasjenige, was
auch die Distanz zwischen Himmel und Erde genannt wird,
also die Distanz zwischen den zwei einander widerspre-
chenden Wirklichkeiten. 500 ist der Umfang des Baumes
des Lebens. Man sagt dann auch, 500 ist all das, was hier
nicht mehr zu erfassen ist.
Aus der Sprache selbst, ohne daß der Mensch etwas dazu-
getan hat, kommt die 500 als verborgener Wert des Begriffes
»Traum«. Die Sprache selbst sagt also schon: Wenn du
träumst, bist du in einer Welt, die du von hier aus nicht
erfassen kannst. Und doch ist eine Verbindung da, denn — so
wird gesagt - Himmel und Erde werden durch den Begriff
500 verbunden.
Für diese Welt und den ganzen Kosmos gilt als Maß die
400. Das Unendliche ist 400, also sozusagen noch zu mes-
sen. Die 500 aber ist ein Durchbruch durch das Meßbare, es
kommt dann etwas ganz anderes. Die Sprache enthält das
und sagt so: Wenn du träumst, dann gibt es keine Trennung
mehr zwischen Himmel und Erde, zwischen deiner Wirk-
lichkeit in der Umhüllung des Lichtes und deiner Wirklich-
keit in der Umhüllung deiner Haut. Beide sind dann eins.
Du bist dann in deiner Haut da und auch mit dem Himmel
verbunden. Du mußt also gar nicht deine Haut verlassen, du
erscheinst in dieser Haut, aber sie ist dann so hauchdünn
und durchlässig, daß du ohne weiteres hin- und zurück-
gehst.
Ein Prophet wird oft ein Träumer genannt, einer, der
Traumgesichte sieht. Man meint damit nicht, wie in der
westlichen Leistungsgesellschaft in der Regel zu hören:
»Der leistet nichts, der träumt!« Träumer dort heißt: Er ist
nicht gebunden an das Sem in der Haut, er hat die Verbin-
dung 500. Er kann durchbrechen - die Haut hindert nicht -
und erfüllt in der Umhüllung des Lichts die ganze Welt.
Nicht im Sinn unserer Maßstäbe von Zeit und Raum, auch
nicht im Unendlichen, sondern im Sinn des ganz anderen,
wo unsere Maßstäbe nicht mehr gelten.
Träumen geschieht, wie sich zeigt, im Schlaf oder wenn
beim Menschen etwas stattfindet, das im Begriff »Schlaf« in
der Ursprache als »doppelt« erscheint. Man könnte also
sagen, daß der Mensch träumt, wenn er »das Doppelte« in
sich erlebt, beide Wirklichkeiten (und dann nicht denkt:
»Jetzt bin ich nicht normal«). Nicht normal ist er vielmehr
eben dann, wenn er diese beiden Wirklichkeiten trennt!
Wenn er glaubt, er lebe entweder so oder so, dann - sagt
man - ist er krank. Er hat die Verbindung verloren.
Viele glauben, sie seien nur normal, wenn sie wach sind
und aus wachem Bewußtsein denken, sprechen und han-
deln. Die Überlieferung aber sieht gerade darin das Nicht-
normale. Wer so denkt, von dem heißt es, daß er als Mensch
nicht funktionieren kann, denn er hat die andere Wirklich-
keit bei sich getötet, erstickt, still gemacht. Er ist dann nur
ein halber Mensch. In meinem Esther-Buch habe ich von
diesem König Achaschwerosch erzählt, dem König der Me-
der und Perser, der nur ein König der halben Welt ist, nicht
der ganzen. Von ihm wird auch gesagt, daß er der König des
halben Menschen ist, nicht des ganzen.
Das gleiche aber gilt auch vom Mystiker, der sagt: »Ich
versenke mich nur in Mystik, alles andere ist mir nicht so
wichtig.« Der ist auch nur ein halber Mensch, denn wozu ist
dann »alles andere«, diese Welt und diese Wirklichkeit?
Viele sagen auch: Das sind zwei Dinge, die man gut ausein-
anderhalten muß wie Geschäft und Privatleben, Alltag und
Ferien. Manchmal komme ich in Meditation und bin dann
sehr gesammelt und in einer höheren Welt; dann wieder
mache ich gute Geschäfte, gönne mir Luxus und bin auch
sehr zufrieden dabei, nämlich wieder »normal«. - So aber
geht es nicht, die Einheit fehlt, es ist eine Trennung da. Eine
störende Unehrlichkeit, die so tut, als sei der Genuß der
»höheren Sphären« am Festtag, was im Alltag als gelungener
Geschäftsabschluß befriedigt.
Das Heilige und das In-der-Welt-Sein ist aber eins. Diese
Einheit zeigt sich beim Menschen als Schwingung einer
Wellenbewegung; er geht mit dem rechten und dann mit
dem linken Bein - eine Wellenbewegung. So gleichen Träu-
men und Wachsein, Freiheit im Licht und Enge in der Haut,
dem Wellenberg und dem Wellental, dem linken und dem
rechten Bein. Beide sind immer da, um den Weg, die Bewe-
gung möglich zu machen.
Wir neigen oft zu raschem Urteilen, zum Beispiel, daß
diese Zeit schlecht sei, weil zu wach, weil die Leistung und
das Materielle überbetont werde. Das stimmt schon, aber es
führt dann eben auch zu ganz anderen Phänomenen, man
erlebt die Dinge ganz anders. Man muß sich hüten, zu sagen
oder zu denken, das sei nicht gut. So wie es ist, ist es immer
gut. Man kann das gar nicht beurteilen.
Es ist in unserer Gesellschaft »normal«, zwischen Dich-
tung und Wahrheit zu unterscheiden. Ein Prophet ist ein
Träumer, Dante ein Phantast, eben ein Dichter, während
Wahrheit mit so etwas wie Industrie und Volkswirtschaft
gleichgesetzt wird. Diese Trennung von Dichtung und
Wahrheit spaltet den Menschen, macht ihn zum halben
Menschen. Ein Mensch, der nicht mehr imstande ist, sich
Dinge vorzustellen und zu erleben, die von der ganz an-
deren Wirklichkeit herkommen, aber auch derjenige, der
das konkrete Leben des Wachseins mit seiner Enge nicht
akzeptiert - jeder ist auf seine Art ein verkümmerter
Mensch.
Jetzt verstehen Sie, daß das hebräische Wort »schena«,
Schlaf, den Begriff des Doppelten enthält; es wird auch als
Wurzel des Begriffes »schoschana« (Susanna) gesehen.
»Schoschana« ist »Rose«, aber Rose ist hier als Grundbe-
griff der Blume überhaupt gemeint: die Blume an sich. Das
Schöne an der Blume ist, daß sie nicht nur schöne Farben
und Blätter hat, sondern auch einen Duft. Es ist also nicht
nur das Aussehen, sondern auch das Unsichtbare - beide
Welten sind da. Es heißt daher: Wenn du die Blume siehst
als anziehende, verführerische Erscheinung und zugleich
den herrlich betörenden Duft wahrnimmst, erlebst du bei-
des in einem. Die »Rose«, die Blume, enthält das gleiche wie
»Schlaf«: den Begriff des Doppelten.
Die Sprache, das ist wohl deutlich geworden, erzählt uns
Geheimnisse, die niemals von Menschen oder Kommissio-
nen erfunden oder beschlossen worden sein können. Sie
kommt vielmehr aus dem Menschen hervor. Was aber von
selbst aus dem Menschen kommt, ist Wahrheit. Es kommt
eben aus seiner anderen Seite, wo es als Doppeltes steht.
Wenn der Mensch denkt, ist er einseitig, denn Denken,
Erklären, Beweisen sollen kausal sein, und Kausalität ist
einseitig. Ein Beweis ist daher immer etwas sehr Gefährli-
ches, da man sehr oft und unvermutet Falsches beweist,
jedenfalls Einseitiges.
Wir sollten uns von dem Zwang kausaler Erklärungen frei
machen und sagen: Es ist so, ich empfinde, spüre es so, weil
es eben nicht nur das Äußere gibt, sondern auch das andere.
So geschieht es ja auch automatisch, wenn wir einem Men-
schen begegnen. Wir sehen das Äußere und glauben, danach
zu urteilen. Das machen wir uns aber nur vor; wir urteilen
nämlich auch nach ganz anderen Dingen, spüren etwas, das
gar nicht gesehen werden kann. Wir sagen aber: »Der hat
sympathisch gelächelt« - »Die Farbe steht ihr so gut« - »So
geschmackvoll gekleidet«, und glauben, das ist es, wollen es
beweisen, während es doch gar nicht zu beweisen ist. Etwas
ganz anderes war da und wußte gleich: Hier ist Kontakt, der
ist gut, oder: Hier kann ich mich nicht öffnen, ich ziehe
mich zurück. Natürlich kann sich das von Tag zu Tag
ändern; ein festes Gefühl gibt es nicht.
In den Traumerzählungen stoßen wir sehr oft auf mytho-
logische Begriffe. Mythen sind Dichtung, aber auch Pro-
phetie; sie kommen dem Traum sehr nahe. Stadtmenschen
träumen manchmal von drachenähnlichen Ungeheuern,
sehr häufig von Schlangen. Schlangen kommen aber im
alltäglichen Leben in Europa, in Städten gar, überhaupt
nicht vor. Es zeigt sich hier wie in vielen ähnlichen Fällen,
daß mythologische Wesen oder Typen im Menschen selbst
da sind. C. G. Jung zum Beispiel hat solche Typen ausführ-
lich dargestellt.
Ich möchte mythologische Begriffe von einer ganz ande-
ren Seite her darstellen und versuchen, aus den sehr alten
Quellen neues Leben hervorströmen zu lassen. Die Traum-
bilder können uns dann Wichtiges mitteilen, vor allem auch
in unserem Wachsein, wo doch das Doppelte auch da ist.
Wir fragen uns dann vielleicht eher: Warum habe ich jetzt
diese Phantasie?
Phantasie steht in der heutigen Zeit nicht sehr hoch im
Kurs. Kinder sollen nicht phantasieren, sondern rechnen
lernen. Im Hebräischen ist »rechnen« und »denken« das
gleiche Wort: kausal funktionieren. Gewiß, man muß auch
kausal funktionieren. Wird es aber überbetont oder gar
ausschließlich gefordert, entsteht eine schreckliche Lange-
weile, weil alles gebunden wird. Kausalität ist ein Zwang.
Die Menschen führen heute so viele Zwangshandlungen
aus, weil sie soviel denken müssen. Denken Sie doch nur,
woran Sie alles denken müssen, wenn Sie umziehen oder
Ihre Steuererklärung ausfüllen oder Ihren Urlaub vorberei-
ten! So kommen Sie in Zwang, weil alles kaus"Sl ist, und es
öffnet sich nichts im Leben nach einer anderen Seite. Dort
ist vielleicht etwas ganz Reiches da. Wir aber haben oft sogar
Angst vor der anderen Seite. Und wenn einer Phantasien
und Vorstellungen hat, dann heißt es: Holt ihn zurück auf
den Boden der Wirklichkeit, er soll nicht aus der Reihe
tanzen, hoffentlich wird er bald wieder normal! Phantasie
sei krankhaft, und man tut alles, damit er sie verliert. Wo ist
Phantasie krankhaft, und wo ist sie wahr und belebt? Was ist
normal?
Im Hebräischen hat das Wort für Krankheit die gleiche
Wurzel wie das Wort für normal, und das Wort für Gesund-
heit hat die gleiche Wurzel wie das Wort für Schöpfung und
schöpferisch. Norm heißt: gebunden, Zwang. Der Norm
muß man entsprechen. Schöpferisch heißt: Ich durchbreche
ständig den Zustand, ich schöpfe, erschaffe Neues.
Wenn der Mensch also immer nur denkt und gut rechnet,
dann ist er in einem krankhaften Zustand. Ist er schöpfe-
risch, dann empfindet er keinen Zwang, fühlt sich gesund,
ohne darauf bedacht zu sein. Eigentlich geht die Welt des
Zwanges immer vor lauter Langeweile unter. Man denke
nur an die zwanghaften Förmlichkeiten der Konversation
und der Gesellschaftskleidung.
Der Mensch will auch im Wachsein gern frei sein, gern
phantasieren, gern träumen - viel mehr, als wir denken. Da
will er gern, wie auf Chagalls Bildern, eine Figur in der Luft
herumschweben lassen, die eigentlich auf den Boden gehört.
Träumen sollten wir also nicht nur als Nachtgeschehen
sehen.
In der Nacht aber geschieht das Träumen im Schlaf, also
in der Situation des Doppelten. Der Traum wird da gege-
ben, ist also ein wirklicher Traum. Im Wachen wird die
Phantasie immer wieder durch den Zwang der Norm ge-
bändigt. Ich kann nicht so frei phantasieren, wie ich
träume. Ein Künstler allerdings kann es: Künstler sein
heißt: wach träumen.
Wenden wir uns nun dem Traum-Leben zu! Wir können
uns hier am besten anhand einiger Beispiele orientieren.
Ich will versuchen, bei jedem Beispiel eine andere Facette
des Ganzen zu zeigen.
Lassen Sie mich mit der Schlange beginnen. In den alten
Mitteilungen heißt es nicht: »Wenn du von einer Schlange
träumst...«, sondern: »Wenn dir eine Schlange er-
scheint...«. Das bedeutet, sie kann dir sowohl im Traum
und in der Phantasie als auch in Wirklichkeit begegnen;
»die Schlange erscheint dir« meint eben auch die Tatsache,
daß du sie siehst.
Ich erinnere mich an ein Erlebnis in Indonesien. Da hat-
ten unsere Diener eine Schlange im Zimmer entdeckt und
sagten: »Sie werden umziehen!« Ich dachte gleich, das
weiß ich ja schon, denn ich hatte das auch in den alten
Mitteilungen gelesen. Dort wird gesagt: Wenn du einer
Schlange begegnest, bedeutet es, du wirst in ein neues Le-
ben eintreten; es kann ein neues Haus sein, eine neue Le-
bensphase, es kann alles Neue bedeuten, sogar das Gebis-
senwerden und Sterben. Auch das ist eine neue Phase. Du
siedelst um von dieser Welt in eine andere, das ist auch ein
Umziehen.
Die Schlange kommt auch in der Bibel vor, die »Heilige
Schrift« genannt wird, weil sie inspiriert ist. Eine Mittei-
lung sagt, die Bibel wurde von Moses im Traum geschrie-
ben. Wer ist Moses? Als historische Figur ist er nicht zu
finden. Wir müssen diesen Moses wohl in einer anderen
Welt suchen, in einer Welt, die nicht unter dem kausalen
Zwang der Geschichte steht, wo Ursache und Wirkung
herrschen. Historisch nämlich wäre er - ganz einseitig - nur
da und dann nicht mehr da. Einseitig bedeutet ja eine Phase:
»Er war mal und ist wieder verschwunden; vielleicht war er,
vielleicht auch nicht.«
Es wird deshalb von der Bibel gesagt: Das Ganze ist
geträumt. Für den heutigen Menschen heißt das: Es ist nicht
einseitig, historisch als Phase feststellbar, sondern wirklich
im Sinn von »doppelt«. Der verborgene Wert von Traum,
500, verbindet doch Himmel und Erde. Es ist also wahr im
Himmel und auf Erden. Auf beiden Seiten ist es wahr.
Die Schlange nun, die in der Bibel vorkommt, ist eigent-
lich das, was den Menschen dazu bringt, daß er eine Haut
bekommt. Sie kennen die Geschichte »vom Sündenfall«,
wie das theologisch so schön heißt - die Bibel kennt keinen
Sündenfall, nur die Theologie; wenn der Mensch vom Baum
der Erkenntnis genommen hat, sieht er, daß er nackt ist. Er
bekommt dann ein »Fell«, wie es in der Übersetzung heißt;
in der Ursprache steht »or«, »Haut«. Es könnte auch Fell
heißen, Tierfell. Die alten Kommentare sagen auch: Die
Haut des Menschen ist ein Tierfell, er ist sozusagen ein Tier
geworden, er ist begrenzt worden. Jedenfalls bekommt er
diese Haut, und es fängt an, was man den »Weg des Men-
schen« nennt.
Der Mensch beginnt seinen Weg durch sein Leben, durch
die Geschichte, durch die Welten. Es beginnt nun das, was
er als Entwicklung, als Wachstum erfährt, wo er fortwäh-
rend Änderungen erlebt. Stillstand ist unmöglich, der Weg
zwingt zum Weitergehen. Erstarren würde bedeuten, der
Weg ist zu Ende, d. h., eine Seite im Menschenleben ist
ausgeschaltet. Ständig ist das ganze Leben in dieser Gefahr.
Die Schlange bringt den Menschen also auf den Weg. Nun
wird gesagt: Wenn dir eine Schlange erscheint, bedeutet das,
du erlebst den Weg des Menschen. Du erlebst dann auch das
Gesetzmäßige des Weges, denn Weg bedeutet: Ursache -
Wirkung.
Der Weg des Menschen aber, dein Weg - so wird überlie-
fert - gewinnt nur dann Sinn, wenn du auf dem Weg deines
Werdens auch das hast, was man »das Sein« nennt; sonst ist
er eine Qual. Das Sein und das Werden sind beim Menschen
zwei Seiten; sie bedeuten aber das gleiche.
Wenn Gott seinen Namen in der Bibel das erste Mal
nennt, sagt er: »Ich bin, der ich bin«, oder besser übersetzt:
»Ich werde sein, der ich sein werde.« Es ist eine Wiederho-
lung desselben, das Sein und das Werden als etwas Festes. Es
heißt daher vom Menschen im Bilde Gottes, daß das Sein
und das Werden bei ihm sind; das fortwährende Sichändern
geht mit dem Erleben eines unveränderlichen Seins zusam-
men.